Irgendwie kommt es mir so vor, als hätte ich diesen Artikel über den Obstbaumschnitt schon einmal geschrieben. Oder gar zweimal? Obstbaumschnitt ist ein wirklicher Longseller. Jedes Jahr ist er in vielfacher Ausführung und auf den verschiedensten Ebenen aktuell: bei Ihnen zuhause. Man kann diesem Thema ganz einfach nicht entkommen. Auch unsere klassischen, wunderschön verzitterten, teilweise schon 10 Jahre alten Videos zum Schnitt sind wahre Bestseller, werden jedes Jahr wieder und wieder aufgerufen… Die Unsicherheit beim Thema Obstbaumschnitt ist offenbar grundlegend und tiefgreifend: Viele Hobbygärtner lesen lieber übers Schneiden oder schauen sich Videos an als dass sie es praktisch tun .
Ich kann das gut verstehen. Als ich vor über 30 Jahren im Obstbau zu arbeiten anfing, stand ich vor 15 ha Obstanlage und wusste nicht, wie ich das schaffen sollte. Gut, vielleicht waren es auch nur 10 ha, bloss 20-30 000 Bäume. Es war aber nicht nur die schiere Menge an Bäumen, es war vor allem die „Kunst“ des Obstbaumschnitts, die mir Angst machte: Wie könnte ich das so schnell lernen? Würde ich richtig schneiden? Nun, ich schnitt in jedem bitterkalten Winter Mitte der 80er Jahre zusammen mit meinem Lehrling (der viel mehr wusste als ich) alle Bäume des Obstbaubetriebs und diese trugen überraschenderweise im folgenden Herbst auch genügend Früchte. Der Obstbaum – so meine Lektion – ist bei aller Sensibilität ein geduldiges Wesen und verzeiht so manches. Lesen Sie also jetzt diesen Artikel mit den ultimativen 10 Regeln und dann gehen sie raus – und schneiden Ihre Obstbäume! Es geht ganz einfach, es gibt auch keine wirklichen Fehler – und der Baum wird ihnen mit seiner Reaktion beibringen, wie es noch besser geht.
1. Der Obstbaumschnitt ist ein Dialog, aber jemand muss das Gespräch beginnen
Just do it! Zwar ist es angezeigt, beim Obstbaumschnitt etwas Solideres zu tragen als Turnschuhe, aber wenn Sie das Gespräch mit dem Obstbaum nicht einmal beginnen, wird er auch nicht antworten. Schneiden Sie ihn also nach bestem Wissen und Gewissen (und bitte nach der Lektüre der hier versammelten 10 Schnittregeln). Der Obstbaum wird Ihnen dann im Verlaufe der nachfolgenden Monate schon sagen, was er davon hält. Beobachten Sie also ganz genau, wie er auf Ihre Schnittmassnahmen reagiert… Aber Sie müssen – wie schon oben gesagt – auch keine Angst haben: Das System „Obstbaum“ ist geduldig, es ist nachgerade darauf ausgelegt, auch extreme Eingriffe zu überleben und möglichst ins Positive zu kehren. Denn wenn der Obstbaum in der Evolution, in seiner unendlich langen Schulzeit etwas gelernt hat, dann dies: Alles ist möglich, mit dem Schlimmsten muss immer gerechnet werden (denn es geschieht ganz einfach), Äste brechen ab, ganze Kronenteile werden umgeweht, der Frost kommt noch im Mai und der Winter startet schon im Oktober… Was kann mir da schon diese unstabile, sich lächerlicherweise auf zwei Stämmen bewegende Gartenfreund mit der komischen, metallisch glänzen Frucht am Ast schon antun…
2. Je mehr Sie schneiden, desto mehr wächst der Baum
Das ist das eigentliche Paradoxon des Obstbaumschnitts: Je mehr man schneidet, desto mehr wächst der Baum. Das ist seine natürlich Reaktion: Er wird eingeschränkt und er will seine verloren gegangenen Organe so schnell wie möglich ersetzen. Und fast sicher wird der beschnittene Baum noch eine Sicherheitsmarge nach oben einrechnen, so dass der neue Ast eher noch grösser wird als der alte. Diese grundsätzliche Reaktion des Obstbaums, ja der holzigen Pflanze überhaupt müssen wir beim Obstbaumschnitt immer bedenken: Wir benützen sie ganz bewusst beispielsweise beim der Erziehung, beim Schnitt eines jungen Obsthochstamms. Diesen schneidet man jedes Jahr um 20-30% zurück, um dank des starken Reaktionswachstums eine kräftige und stabile Krone zu entwickeln. Und umgekehrt versuche ich bei einem Apfelspindelbaum, der sich bereits im Vollertrag befindet, das Umgekehrte: Ich minimiere die Schnitteingriffe, um den Baum nicht allzu stark zum vegetativen Triebwachstum anzuregen.
3. Weniger ist mehr: Wenig radikale Schnitte statt viele Schnitte
Aus dem gleichen Grund (mehr Schnitt=mehr Wachstum) ist es fast immer besser, wenige radikale Schnitte auszuführen, als überall mit der Schere zu schnippeln. Damit erreiche ich mit einem Schnitt mehr (ich löse idealerweise ein grundsätzliches Problem beim Aufbau des Baums) und ich rege ihn nicht allzu sehr zu starken Wuchsreaktionen an. Eine Ausnahme zu dieser Regel ergibt sich vielleicht nach Ertragsausfalljahren: Dann ist ein so grosser Anteil der Knospen bereits auf Ertrag gepolt, dass es durchaus Sinn macht, auch das alte Fruchtholz, das sogenannte Quirlholz überall zu bescheiden, um den zu erwartenden Ertrag zu reduzieren und so Alternanz (= grosser Ertrag nur in jedem zweiten Jahr) zu verhindern.
4. FLACH trägt, STEIL wächst
Neben dem Schnittparadoxon (Nr. 2) ist das die wichtigste Regel: Ein flacher waagrechter Ast wächst fast nicht mehr, trägt aber vermehrt Früchte, tendiert also ganz stark zu generativen Wachstum; umgekehrt wächst ein steil nach oben ragender Ast vor allem vegetativ, wird immer stärker und höher; aber er findet vor lauter Himmeldrang keine Zeit und Energie, auch Früchte anzusetzen
5. Binden statt Schneiden – so wird der Obstbaumschnitt fast überflüssig
Wenn es Ihr Ziel ist, einen Obstbaum im Obstgarten eher klein zu halten bei regelmässigen und grossen Erträgen, dann ist Binden fast immer besser als Schneiden. Steile oder zu steile Äste werden also in die Waagrechte runtergebunden, um schneller und sicherer Früchte anzusetzen. Beim Apfelbaum sollte der unterste Astkranz durchaus in der Waagrechte sein, höher ansetzende Seitenäste dürfen auch unter die Waagrechte gebunden werden, gerade wenn der Baum nur ca. 200-250cm hoch werden soll.
Der Apfelbaum 1 Jahr nach der Pflanzung (bei einjährigem Pflanzgut) oder gerade nach der Pflanzung bei zweijährigem Pflanzgut
Nichts bremst das Wachstum so sehr wie der grosse regelmässige Fruchtertrag. Bei der Birne sollte der erste Astkranz immer leicht über der Waagrechte stehen, weil der Birnbaum sonst aufgrund der typischen starken Spitzenförderung dazu tendiert, nur noch oben zu wachsen und in der Folge zu überbauen. Natürlich kann bei älteren Bäumen das „Flachstellen“ auch über den Obstbaumschnitt erfolgen, indem zu steile, schon relativ dicke Äste auf flachere Seitenäste abgeleitet werden. –
Schnitt eines Kirschbaums – roter Kreis und Detail links unten „Ableiten eines zu steilen Astes“
Natürlich gilt wie fast immer auch der Umkehrschluss: Wenn Sie mehr Wachstum wollen, dann belassen Sie die steileren Äste und schneiden sie darüber hinaus auch noch an, um noch mehr Reaktionswachstum aus dem Baum herauszukitzeln.
6. Der Obstbaumschnitt bringt Ordnung in den Baum
Wir haben ja schon gesagt, dass der Obstbaumschnitt keine Kunst ist. Aber er ist auf der anderen Seite auch keine Wissenschaft, schon gar keine Mathematik oder Physik. Am weitesten kommt man beim Schneiden mit genügend gesundem Menschenverstand, ergänzt mit einer Prise Ästhetik. Und vielleicht gehört ein bisschen Ordnungssinn auch dazu: Querlaufende und nach innen gerichtete Äste sind wenig hilfreich, weil sie den Einfall des Sonnenlichts ins Innere des Baumes behindern. Ebenso wenig hilft, wenn plötzlich untergeordnete Elemente der Krone übermächtig auftrumpfen und zu stark werden. Fast immer stehlen sie dann anderen, grundsätzlich wichtigeren und (im Sinne des Ertrags) besser positionierten Baumelementen die Show, beschatten und behinder sie, bis schliesslich Ertrag und Fruchtqualität darunter leiden. Darum hat sich folgende Regel eingebürgert, die mir ganz hilfreich scheint, wenn man sie nicht allzuzu sklavisch umsetzt und befolgt: Wird ein untergeordnetes Element der Baumkrone (ganz oben steht der Stamm mit der Stammverlängerung, dann folgen die Seitenäste, später dann die Seitenäste der Seitenäste…) mehr als halb so dick wie das übergeordnete Element, dann muss es entfernt werden. Beim Steinobst kommt noch hinzu, dass in so einem Fall nicht das gesamte überstark gewordenen untergeordnete Element entfernt wird, sondern dass immer noch ein Stummel von 10-20cm belassen wird, der als Grundlage für neues, angemesseneres Wachstum dienen kann; beim Kernobst kann man enger schneiden, da aus dem Astring mit seinen vielen schlafenden Augen jederzeit wieder neue Äste entstehen können.
7. Die Sache mit den Wasserschossen
Sie kennen das Bild: Der grosse Obstbaum vor dem Haus macht jedes Jahre Wasserschosse auf allen Ästen, im Winter kommt der Gartenbauer und schneidet diese wieder weg, aber irgendwie scheinen es doch immer mehr zu werden. So viel haben wir ja auch schon in diesem Artikel gelernt: Schnitt führt zu mehr Wachstum, viel Schnitte zu noch viel mehr Wachstum. Wie aber kommt man aus diesem Teufelskreis wieder heraus? Eine Möglichkeit besteht darin, die Wasserschosse nicht zu schneiden, sondern zu reissen. Beim Reissen kommen die basalen schlafenden Knospen mit und es werden in der Folge weniger Reaktionsaustriebe entstehen. Und die andere Möglichkeit? Die besteht darin, gar nichts zu machen, zu warten (in der Regel 2-3 Jahre) bis auch die Wasserschosse Früchte tragen, teilweise runterfallen in flachere Position, gebremst und gebeugt von der Last der Früchte. Und dann ist es eher möglich, mit einem vorsichtigen und selektiven Schnitt die Schossen auszudünnen.
8. Wann der Sommerschnitt besser ist
Gerade den unter Punkt 7 beschriebenen Spezialeingriff (das Schneiden von Wasserschossen) macht man am besten im Sommer. Man schneidet ganz vorsichtig die nun fruchtende Wasserschosse, versucht diejenigen, die nicht zu brauchbaren Seitenästen und Fruchtholz werden wollen, gänzlich oder noch besser nur bis auf Stummel zu entfernen. Einerseits wird der Ertrag helfen, dass der Baum nicht allzu stark reagieren kann – und andererseits hilft hier auch der Schnittzeitpunkt rund um den längsten Tag, den Baum im Zaum zu halten. Zu dieser Zeit ist das Jahreswachstum schon gelaufen, die restliche Kraft wird für die Reife der Früchte und der Samen gebraucht. Dazu kommt: Mit dem Schnitt wird ja auch grünes Laub und damit Assimilisationsfläche entfernt, was die Reaktionsfähigkeit des Baums weiter heruntersetzt.
Die gleiche Vorgehensweise hilft auch bei sehr grossen Schnitteingriffen. Auch hier kann der Verlust von Assimilisationsfläche (sprich: von grünen Blättern) hilfreich sein, um das Aufbegehren des „verletzten“ Baums einzuschränken. Umgekehrt ist der Baum mit seinem aktiven Stoffwechsel im Sommer besser in der Lage, seine Wunden zu verschliessen und sich gegen unerwünschte Eindringliche zur Wehr zu setzen. Natürlich kann man diese Wehrhaftigkeit bei Wunden über 5cm Durchmesser auch mit einem Wundverschlussmittel unterstützen
9. Das Gleichgewicht zwischen Triebwachstum und Fruchtansatz
Nun nähert sich der 10 Stufenkurs zum Schnitt schon seinem Ende und sind endklich bei der Hohen Schule angekommen: Letztlich ist es, mindestens bei „erwachsenen“ Bäumen im Vollertrag unser vordringliches Ziel, das Gleichgewicht zwischen vegetativem Triebwachstum und generativem Fruchtansatz und Fruchtwachstum zu erreichen und dann zu erhalten. Bei sehr wenig Triebwachstum und sehr vielen Früchten wird man den Baum mit etwas stärkerem Schnitt wachklitzeln (auch um ein vorzeitiges Vergreisen zu verhindern), bei sehr starkem Wachstum und wenig Ertrag wird man sich beim Schneiden so gut wie möglich zurückhalten und allenfalls möglichst viele Äste flach binden.
10. Der Obstbaumschnitt ist ein Dialog, aber man muss hinschauen und zuhören
Wir möchten den Obstbaum verstehen, seine Sprache hören und interpretieren können. Wir geben ihm mit unserem Schnnitt eine Nachricht (auch eine Art „Hausaufgabe“), und im Verlaufe der Vegetationsperiode sehen, hören und verstehen wir, wie er reagiert. Und daraus ziehen wir wiederum Schlussfolgerungen für den nächstjährigen Schnitt. Obstbaumschnitt soll ein Dialog sein. Es gibt deshalb auch keine ganz falschen Schnitte (allerhöchstens unpassende ;-). In jedem Fall wird der Obstbaum die für ihn adäquate Botschaft zurücksenden und wir müssen lernen, diese Botschaft zu verstehen. So wird auch ihr Obstbaumschnitt jedes Jahr immer besser, und Ihr Obstbaum kommt dem ersehnten Ziel, dem perfekten Gleichgewicht zwischen Fruchtertrag und Triebwuchs immer näher.
Und dann ist es halt wie im richtigen Leben. Ganz erreichen wird man dieses Ziel nie. Man kommt ihm aber näher.